Exhibition: Mykola Ridnyi – Loss of Vision
Eröffnung: 19.11.2024, 19:00Ausstellung: 20.11. – 21.12.2024Kuratiert von Sabine Gamper
Die heutigen Kriege sind Kriege der Bilder. Visuelle Darstellungen von militärischen Aktionen, Kriegsverbrechen und Zerstörungen füllen unseren Alltag, doch sie sind viel mehr als bloße Berichte. Sie wetteifern miteinander auf einem Informationsschlachtfeld. Bilder der Gewalt haben schon immer die Medien angetrieben, aber dank Rund-um-die-Uhr-Nachrichten und sozialen Medien sind globale Zuschauer ständig Konfliktbildern ausgesetzt. Nachrichten werden kommerzialisiert, Filmmaterial wird wie Actionfilme geschnitten, das normale Leben wird ausgeblendet, um die Zuschauer zu fesseln. In einer Reihe von Werken aus dem letzten Jahrzehnt untersucht Mykola Ridnyi, wie man über Gewalt sprechen kann, ohne sie zu verfestigen, indem er Metaphern der Blindheit verwendet, um auf die Entmenschlichung der Gesellschaft angesichts sensationslüsterner Nachrichten und der Herausforderungen des Krieges aufmerksam zu machen. Seit 2014 beschäftigt sich der Künstler mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine, seinem Wesenswandel vom hybriden Konflikt hin zur umfassenden Invasion und der damit verbundenen Wahrnehmung in der Welt.
In der Serie Blind Spot (2014 – ) – auf Deutsch: Blinder Fleck – wurden gefundene Bilder, die die Zerstörung der Ukraine zeigen, gedruckt und mit Sprühfarbe überdeckt. Ein blinder Fleck ist ein kleiner Bereich auf der Netzhaut, der keine lichtempfindlichen Rezeptoren hat. Jedes normale menschliche Auge muss damit umgehen, um ein Bild zu empfangen. Um das Bild zu betrachten oder es kognitiv als sinnvoll zu erfassen, verlassen wir uns auf unser Vorwissen und Gedächtnis, ohne zu berücksichtigen, dass wir die Wirklichkeit fortwährend konstruieren. Bei den Krankheiten Skotom oder Glaukom kann der blinde Fleck wahrgenommen werden – von einem kleinen Fleck bis hin zur totalen Dunkelheit, die das Auge „ausfüllt“. In der Serie wurden verschiedene Formen der visuellen Effekte, die durch das Skotom verursacht werden, auf den gefundenen Bildern von kriegszerstörten Gebieten in der Ukraine (Landschaften, Straßenansichten, Gebäude) umgesetzt. Damit wird auf die Ähnlichkeit zwischen den Zerstörungen der menschlichen Sehkraft durch eine Krankheit und der Zerstörung unserer Fähigkeit, über soziale und politische Realitäten nachzudenken, durch Medienpropaganda hingewiesen.
Wie kann die Grenze, die sich ständig verschiebt, da die militärischen Aktionen andauern, markiert werden? Wie können illegale Grenzen, wie im Fall der annektierten Halbinsel Krim, die mit ihren Grenzkontrollen und Soldaten real existieren, gezogen werden? Gradual Loss of Vision (2017 – ) ist eine Werkreihe, die digitale Fotocollagen mit unscharfen Karten umstrittener Gebiete und militärischer Einsatzgebiete, Freihandzeichnungen und Notizen zu den Besonderheiten des menschlichen Sehens umfasst. Die russische Invasion in der Ukraine ist nicht der erste Krieg im postsowjetischen Raum: Konflikte um Transnistrien, Abchasien, Südossetien, Berg-Karabach und die russische Besetzung Tschetscheniens haben Jahre, sogar Jahrzehnte vor dem Konflikt in der Ukraine begonnen. Allerdings bildete den Ausgangspunkt der Serie die Reflexion über eine Situation, in der internationale Massenmedien aufhörten, sich für den sogenannten „eingefrorenen Konflikt“ zu interessieren. Wir beobachteten, wie sich die Aufmerksamkeit der Welt auf den Krieg in Syrien verlagerte, 2022 wieder zur Ukraine zurückkehrte und 2023 erneut zum Krieg im Gazastreifen und dessen Ausweitung auf den Nahen Osten wechselte.
Wenn eine Person einschläft und im Bereich des blinden Flecks in der Region des Nasenrückens Druck entsteht, kehrt das Sehen nach dem Aufwachen nicht sofort zurück. Das tatsächliche Bild wird etwa eine Minute lang unscharf sein und dann langsam wieder erkennbar werden. Genau so reagieren wir auf politische Probleme, wenn sie eine Weile aus dem Fokus der Medien geraten sind – die Reaktion kommt verzögert und scheint zu spät zu kommen, um ein brennendes Problem zu lösen. (MR)
Im Jahr 2022 wurde ein Stadtteil von Saltivka in Charkiw, in dem Ridnyi aufgewachsen ist, zur Frontlinie der russischen Angriffe und erlitt erhebliche Zerstörungen. The District – eines der neuesten Bewegtbild-Werke von Mykola Ridnyi. Er betrachtet die vertrauten Orte in Charkiw, die durch Beschuss schwer beschädigt wurden. Der Künstler beauftragte Filmaufnahmen aus der Ferne. Da er die Stadt selbst nicht aufsuchen konnte, schickte er ein Filmteam mit Anweisungen los. Die gefilmten Räume werden mit einer Reihe von Erinnerungen verbunden, die aus dem Off erzählt werden. Diese Geschichten versetzen die Bilder aus dem öffentlichen Raum des Krieges in den privaten Bereich der Erinnerung. (DM)
Es ist ein Spaziergang durch den „Geisterbezirk“, in dem Vergangenheit und Gegenwart, äußere und innere Landschaften, Fakten und Erinnerungen nebeneinander existieren. (MR)
In der Arbeit In Daylight (2018), die für die Vitrinenpräsentation neu bearbeitet wurde, beschließt der Künstler, Informationen eher nicht preiszugeben, als sie bewusst zu verbergen. Er untersucht die Gesten europäischer Populisten und Führer rechter Kräfte, platziert jede Geste in einen Kreis, während er die Identität der Person verbirgt. Eine Hand symbolisiert sowohl Autorität bzw. Macht als auch Solidarität. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die erhobene Faust zum Symbol der Arbeitereinheit im Aufruf zur Gründung von Gewerkschaften. Fäuste wurden auch zur Verbreitung linker Ideen im Widerstand gegen den Kapitalismus verwendet. Ridnyi zeigt einen Paradigmenwechsel: Rechtspopulisten haben seitdem sich die Methoden, Gesten und Errungenschaften der linken Bewegung angeeignet und diskreditieren damit nicht nur die Linke als solche, sondern auch breitere Prinzipien der Meinungsfreiheit und des persönlichen Ausdrucks. (KY)
Soziale Medien wurden von rechten Politikern genutzt, um Hass zu normalisieren, der Solidarität ersetzte und Menschen spaltete. Dies schuf auch einen höchst emotionalen Tonfall in den Medien, der durch gewalttätige Inhalte angeheizt wurde. In einigen Fällen führte die vom Staat verursachte Gewalt und das körperliche Trauma tatsächlich zu physischer Erblindung. Dies geschah bei diversen öffentlichen Protesten in verschiedenen Ländern, als Demonstranten und unabhängige Journalisten von der Polizei oder dem Militär angeschossen und am Auge verletzt wurden. (MR)
In Speck in the Eye (2021) hat Ridnyi kleine „Flicken“ auf fünf großformatige Bilder aufgebracht, die geologisch und sedimentartig aussehende Strukturen zeigen. Die Bilder im Format von Aufklebern dokumentieren sogenannte „blinde Proteste“, die weltweit stattfanden – unter anderem in Chile, Ägypten, Hongkong, Kaschmir, Palästina oder Georgien – und als Solidaritätsaktionen mit Opfern polizeilicher oder paramilitärischer Brutalität bekannt wurden, die dadurch ihr Augenlicht verloren oder schwere Augenverletzungen erlitten hatten. Obwohl die Bilder auf den ersten Blick wie zufällige Abstraktionen wirken, handelt es sich hierbei um mikroskopische Aufnahmen der Augenstruktur, die Verletzungen durch äußere Einflüsse zeigen. Diese ophthalmologischen Proben liefern Beweise für die realen Folgen staatlicher Gewalt, die in die organische Struktur der Körper der Bürger eingeschrieben wird. Ridnyi macht diese quasi-physischen Abstraktionen zu einem öffentlichen Raum, indem er Bilder aus den Massenmedien darauf aufbringt, die Solidarität mit den Opfern von Gewalt zeigen. (AS)
MR – Mykola Ridnyi DM – Daniel Muzyczuk KY – Kateryna Yakovlenko AS – Andrei Siclodi